Es ist schön, einen Baum neben dem
Haus zu haben. Er spendet Schatten im Sommer, ermöglicht tägliche
Naturbeobachtungen, verbindet Haus und Garten mit der Landschaft und
sorgt für Nachschub an Mulchmaterial oder auch an Früchten.
Der Hausbaum hat Tradition. Auch heute
noch gehört das Pflanzen eines Baumes für viele Bauherren und
-damen instinktiv zum Neubau eines Hauses dazu. Widerstandsfähigkeit,
Dauerhaftigkeit und Wachstum des Baumes stehen symbolhaft für die
Hoffnungen der Bewohner für die eigene Familie. Vor allem aber
vermittelt er den Hausbewohnern ein unterschwelliges Schutzgefühl.
Das Bedürfnis des Menschen in Baumnähe zu leben ist wahrscheinlich
genetisch festgelegt.
Ab und zu kommt es vor, dass ein
markanter Baum auf einem Baugrundstück erhalten bleibt und das Haus
neben – oder gar unter – dem Baum entsteht. So auch das
Haus, in dem ich wohne. Es wurde mehr als zehn Jahre vor meiner
Geburt unter eine riesige Traubeneiche gebaut. Dies machte den Koloss
im hohen Alter ungefragt zum Hausbaum.
Niemand weiß heute noch, wie viele
Wurzeln damals gekappt und zubetoniert wurden - oder wie viele
Flaschen Wein unter seinem Blätterdach seitdem in geselliger Runde
geleert wurden. Jedenfalls kann ich mir das Haus nicht ohne Baum und
den Baum nicht ohne Haus vorstellen.
Am Anfang war der Baum. Darunter wurde gebaut. |
Anfang der neunziger Jahre ist wohl ein
Ast durch das Dach gekracht. Unmittelbar danach hat man einige Äste
auf der Westseite eingekürzt und mehrere Seile zur Kronensicherung
eingebaut. Die Sicherungsseile habe ich nach Übernahme des Hauses erneuern
lassen.
...
Na gut, ich gebe es zu: sobald
stärkerer Sturm angesagt ist, schwindet das oben angesprochene
Gefühl des Geschütz-Seins. An seine Stelle tritt die Angst, sich
vielleicht doch allzu sehr einer irrationalen Romantik hingegeben zu
haben. Ist dieses tonnenschwere Damoklesschwert denn wirklich
erhaltenswert? Die Gefahr von abbrechenden Ästen ist ja nicht das
einzige Problem: Ständig sind die Dachrinnen verstopft. Das Dach ist
vermoost. Die herabfallenden Früchte tun bei einem Treffer richtig
weh und machen auf dem Vordach aus Plexiglas einen Höllenlärm.
Außerdem locken sie Wildschweine direkt ans Haus. Bei jedem Regen
verdreckt der Rindenabrieb die Terrassenmöbel. Und überhaupt macht
der Baum das ganze Grundstück trocken und schattig.
An der dünnsten (!) Stelle hat der Stamm einen Umfang von 4,95 Metern. |
Immer, wenn mich solche Gedanken
plagen, klettere ich den Hang hinterm Haus hinauf, blicke auf
Augenhöhe in die fünfzehntausend Kubikmeter Krone hinein und mir
ist, als betrachtete ich einen ganzen Wald. Jeder Hauptast für sich
ist ein kräftiger Baum. Ich sehe helle und schattige Bereiche. Die rissige Borke
gleicht einer Landkarte aus Moosen und Flechten. Manchmal sieht man
Eichhörnchen und Bilche auf ihren vertrauten Wegen durchs Geäst
huschen. In den Nischen unter den Seitenästen schlafen
regengeschützt die Fledermäuse. Vögel nutzen die Äste als Warte.
Von den Gliederfüßern ganz zu schweigen.
„Das ist kein Argument.“, sagt der
Logiker in mir. „In der Umgebung stehen genug Eichen, wenn auch
keine so dicken. Auf die Artenvielfalt hat dieser spezielle Baum
keinen Einfluss. Und der Baumfrisör macht seine Arbeit alle paar Jahre auch nicht für lau!“
Baumfrisöre bei der Arbeit |
Eigentlich halte ich mich für einen
eher rationalen Menschen. Aber ich kann dieses beeindruckende, uralte
Lebewesen nicht betrachten und gleichzeitig ernsthaft einen
Totalrückschnitt in Erwägung ziehen. Geschätzt eine Viertelmillion
Sonnenstunden haben es zu dem werden lassen, was es heute ist. Wenn
ich lange fit bleibe, dann werde ich wohl den größten Teil meines
Lebens immer wieder mit alpiner Kletterausrüstung aufs Dach steigen,
um erst Blüten, dann Früchte und später das Laub aus den Rinnen zu
holen. Meinen dicken Freund Quercus interessiert das nicht. Er wird
auch dann noch seine Blätter ins Licht recken, wenn für mich keine
Sonne mehr scheint. Ich habe nicht das Recht, über seine Existenz zu entscheiden. Ich bin dankbar, dass er mich bei sich
wohnen lässt.
Dicke Freunde |