6. Dezember 2015

Leben mit dem Baum


Es ist schön, einen Baum neben dem Haus zu haben. Er spendet Schatten im Sommer, ermöglicht tägliche Naturbeobachtungen, verbindet Haus und Garten mit der Landschaft und sorgt für Nachschub an Mulchmaterial oder auch an Früchten.

Der Hausbaum hat Tradition. Auch heute noch gehört das Pflanzen eines Baumes für viele Bauherren und -damen instinktiv zum Neubau eines Hauses dazu. Widerstandsfähigkeit, Dauerhaftigkeit und Wachstum des Baumes stehen symbolhaft für die Hoffnungen der Bewohner für die eigene Familie. Vor allem aber vermittelt er den Hausbewohnern ein unterschwelliges Schutzgefühl. Das Bedürfnis des Menschen in Baumnähe zu leben ist wahrscheinlich genetisch festgelegt.

Ab und zu kommt es vor, dass ein markanter Baum auf einem Baugrundstück erhalten bleibt und das Haus neben – oder gar unter – dem Baum entsteht. So auch das Haus, in dem ich wohne. Es wurde mehr als zehn Jahre vor meiner Geburt unter eine riesige Traubeneiche gebaut. Dies machte den Koloss im hohen Alter ungefragt zum Hausbaum.

Niemand weiß heute noch, wie viele Wurzeln damals gekappt und zubetoniert wurden - oder wie viele Flaschen Wein unter seinem Blätterdach seitdem in geselliger Runde geleert wurden. Jedenfalls kann ich mir das Haus nicht ohne Baum und den Baum nicht ohne Haus vorstellen.


Am Anfang war der Baum. Darunter wurde gebaut.

Anfang der neunziger Jahre ist wohl ein Ast durch das Dach gekracht. Unmittelbar danach hat man einige Äste auf der Westseite eingekürzt und mehrere Seile zur Kronensicherung eingebaut. Die Sicherungsseile habe ich nach Übernahme des Hauses erneuern lassen.

...

Na gut, ich gebe es zu: sobald stärkerer Sturm angesagt ist, schwindet das oben angesprochene Gefühl des Geschütz-Seins. An seine Stelle tritt die Angst, sich vielleicht doch allzu sehr einer irrationalen Romantik hingegeben zu haben. Ist dieses tonnenschwere Damoklesschwert denn wirklich erhaltenswert? Die Gefahr von abbrechenden Ästen ist ja nicht das einzige Problem: Ständig sind die Dachrinnen verstopft. Das Dach ist vermoost. Die herabfallenden Früchte tun bei einem Treffer richtig weh und machen auf dem Vordach aus Plexiglas einen Höllenlärm. Außerdem locken sie Wildschweine direkt ans Haus. Bei jedem Regen verdreckt der Rindenabrieb die Terrassenmöbel. Und überhaupt macht der Baum das ganze Grundstück trocken und schattig.

An der dünnsten (!) Stelle hat der Stamm einen Umfang von 4,95 Metern.

Immer, wenn mich solche Gedanken plagen, klettere ich den Hang hinterm Haus hinauf, blicke auf Augenhöhe in die fünfzehntausend Kubikmeter Krone hinein und mir ist, als betrachtete ich einen ganzen Wald. Jeder Hauptast für sich ist ein kräftiger Baum. Ich sehe helle und schattige Bereiche. Die rissige Borke gleicht einer Landkarte aus Moosen und Flechten. Manchmal sieht man Eichhörnchen und Bilche auf ihren vertrauten Wegen durchs Geäst huschen. In den Nischen unter den Seitenästen schlafen regengeschützt die Fledermäuse. Vögel nutzen die Äste als Warte. Von den Gliederfüßern ganz zu schweigen.

„Das ist kein Argument.“, sagt der Logiker in mir. „In der Umgebung stehen genug Eichen, wenn auch keine so dicken. Auf die Artenvielfalt hat dieser spezielle Baum keinen Einfluss. Und der Baumfrisör macht seine Arbeit alle paar Jahre auch nicht für lau!“ 

Baumfrisöre bei der Arbeit

Eigentlich halte ich mich für einen eher rationalen Menschen. Aber ich kann dieses beeindruckende, uralte Lebewesen nicht betrachten und gleichzeitig ernsthaft einen Totalrückschnitt in Erwägung ziehen. Geschätzt eine Viertelmillion Sonnenstunden haben es zu dem werden lassen, was es heute ist. Wenn ich lange fit bleibe, dann werde ich wohl den größten Teil meines Lebens immer wieder mit alpiner Kletterausrüstung aufs Dach steigen, um erst Blüten, dann Früchte und später das Laub aus den Rinnen zu holen. Meinen dicken Freund Quercus interessiert das nicht. Er wird auch dann noch seine Blätter ins Licht recken, wenn für mich keine Sonne mehr scheint. Ich habe nicht das Recht, über seine Existenz zu entscheiden. Ich bin dankbar, dass er mich bei sich wohnen lässt.

Dicke Freunde

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